Aus dem kulturellen Herzen Frankreichs, aus Pariiiieeeee, überkommen uns Memories of a Dead Man. Deren zweites Album, V.I.T.R.I.O.L., präsentiert die neue Zusammensetzung eines Sounds, der sich nach einigen Line-up-Änderungen um knapp 180 Grad gedreht hat. Die sechs post-rockigen Hardcore-Pariser (entschuldigt das Double Entendre) hatten für ihr erstes Album (Beyond the Legend, 2009) bereits viel positive Kritik erhalten. Dann gingen die einen ihrer Wege, andere gesellten sich dazu. Geblieben ist beispielsweise der Vokalist/Screamer Pierre Duneau, der nun nach weiblichem Neuzugang, der Bassistin, auch in Sachen Gesang unterstützt wird. Nicht zuletzt müssen diese Umstellungen auch eine Kursänderung bewirkt haben, denn wer Beyond the Legend gehört hat, könnte den Sound von V.I.T.R.I.O.L. noch lange nicht erahnen.
Das Album beginnt mit „Tomorrow at Dawn“ sehr geheimnis- und spannungsvoll, mit Störgeräuschen, dann mit sonor-dissonanten Stakkato-Gitarrentönen, die sich wie ein Strukturelement durch das ganze Album ziehen. Schwerfällig drängt der Song mit Growls und Screams voran, bis der unerhört einprägsame Refrain über den Hörer herfällt. Geht gut ins Gedächtnis, bleibt auch dort, besonders durch den ganz schlicht vorgetragenen Backup-Gesang der Bassistin, der für einen fast kinderliedartigen Anklang sorgt. Dann wieder Störgeräusche, einsame Klaviernoten. Is schon klar: Memories of a Dead Man lassen nix anbrennen, und setzen mit Titel Nr. 1 den ersten akustischen Meilenstein des Albums. Es folgt dann keine große Abkehr mehr von diesem Konzept (super auch „Good Mourning Child“, oder „Leave Scars“). Die Melange aus tiefer Growlstimme, gelegentlich einer Frauenstimme, fetten Basstönen, schweren Quinten und Melodien wie Pflastersteine ist das perfekte musikalische Outfit für Geschichten von den berühmten Sieben Todsünden (visualisiert im Video zu „Tomorrow at Dawn“), die der Menschheit ständig auf den Fersen sind; es geht um Läuterung und Vergebung.
Hat der ernste thematische Rahmen vielleicht auch einen neuen musikalischen Stil gefordert? In einigen Aspekten unterscheidet sich das neue Album erheblich von dem Stoff, aus dem die erste Platte und die EPs waren: Der Gesang nimmt Abstand vom alten Arrangement, bei dem der saubere melodische Powergesang mit harschen Growls duettierte. Jetzt steht ein eher kruder Gesang im Vordergrund, nicht so schöngeistig, weniger homogen, dreckiger – sludge-ig halt. Trotzdem hat der nicht weniger Pathos. Wer also kein Fan von gebügeltem Emo-Power-Bubengesang ist (besonders ältere Songs wie „The Legend“, „Hope is where you are“, „Single thought and emptiness wishes“ sind herzzerreißend!), sollte der Band noch mal eine Chance geben. Wer vom ersten Album schwärmen musste, darf sich dagegen auf unerwartete Klänge einstellen (gemastert von Magnus Líndberg von Cult of Luna). Allerdings setzen Memories of a Dead Man hier ohne Blick zurück durchweg auf das neue Hausrezept – weniger ist mehr – und bleiben eisern dabei. Das schmeckt gut, lässt aber auch ohne Abwechslung leichte Monotonie einkehren, trotz oder vielleicht wegen des recht nonkonformen Songaufbaus und der Songlänge. Dennoch: guter Soundtrack für einen verregneten Tag … zurücklehnen, lauschen, mitgrölen …