Ich kann mich noch gut erinnern, wie enttäuscht ich 2008 war, als Orphaned Land ihren Auftritt für das „Summer Breeze“ absagten. Auf der anderen Seite hatte ich Verständnis für den Grund: die Arbeiten am aktuellen Album. Doch wer hätte geahnt, dass die Fertigstellung von „ORwarriOR“ noch einmal anderthalb Jahre in Anspruch nehmen würde? Wie dem auch sei, fast sechs Jahre nach dem kongenialen Meisterwerk „Mabool“ beglücken uns die Israelis nun mit neuem Material.

Und selbiges ist – um es vorweg zu stellen – äußerst hübsch verpackt. Ich habe hier eine Digipack-Version in Buchform mit der CD sowie einer DVD vor mir liegen, wobei letztere Bonusmaterial in Form eines Filmes zum Entstehungsprozess der Platte bietet. Das Booklet beinhaltet wunderschöne Tusche-Kalligraphien sowie die Lyrics. Ein sicher immer seltener werdender und nicht genug wertzuschätzender Aufwand, der da von Orphaned Land betrieben wurde, wenn man bedenkt, dass wir immer mehr auf die Zeit der (rein) digitalen Internet-Käufe von Musik zusteuern. Dabei spielt gerade bei Konzeptalben wie diesem oft auch die optische Darbietung eine gewichtige Rolle, die das Kunstwerk als Ganzes erst komplementiert.

Musikalisch betrachtet hat sich jeder Wartetag der letzten sechs Jahre für Fans der Band gelohnt. Auch wenn die Nahost-Metaller auf „ORwarriOR“ stilistisch wesentlich heterogener zu Werke gehen, als noch auf „Mabool“. Der Krieger des Lichts, um dessen Weg es auf dem Album geht, beginnt seine Reise mit „Sapari“, einem äußert rockigen Song. Die typisch orientalischen Harmonien werden mit viel Groove rübergebracht und Shlomit Levi verleiht dem Song mit ihrem genialen Gesang im Duett mit Kobi Farhi ein gewisses Etwas. Sie scheint als nicht festes Bandmitglied paradoxerweise zu einer Konstante in der Musik von Orphaned Land geworden zu sein, die man sich nicht mehr wegdenken mag.

Im selben rockigen Stil beginnt „From Broken Vessels“, einer der besten Tracks des Albums. Hier lässt Kobi Farhi zum ersten Mal seine „Röhre“ ertönen. Und ja, er beherrscht den Wechsel zwischen cleanem Gesang und Grunzen/Kreischen wie kaum ein zweiter; vielleicht nur noch Mikael Åkerfeldt (Opeth). Das Stück weist einen wunderschönen melodiösen Refrain, einen kurzen Death Metal-angehauchten sowie folkloristischen Part auf und erinnert von seiner Machart damit noch am ehesten an „Mabool“.

„Bereft In The Abyss“ stellt ein rein akustisches Zwischenstück dar. Kurz aber schön. Danach folgt das bisher beste, was Orphaned Land je abgeliefert haben. Mit „The Path Part 1 – Treading Through Darkness” haben sie sich ein musikalisches Denkmal gesetzt. Wie sie hier die Dynamik von ruhigem Beginn, darauf folgendem hymnischen Fokloreteil sowie anschließendem progressivem Death Metal (der das musikalische Thema wieder aufgreift) kombinieren, ist unfassbar. Ein Songwriting auf solchem Niveau und mit einer derart gut gewählten Instrumentierung ist nur wenigen lebenden Individuen im Laufe ihres Lebens vergönnt. Das behaupte ich und lehne mich damit vielleicht weit zum Fenster heraus. Wie immer gilt die eigene Meinungsbildung, die hier ausdrücklich ans Herz gelegt sei.

„The Path Part 2 – The Pilgrimage To Or Shalem“ besticht ebenfalls durch ausgereifte Melodiebögen und brilliante (doppelte) Gesangslinien, ideenreiche Themen- und Rhythmuswechsel sowie gute Sologitarrenarbeit. Eben die konsequente Fortsetzung des ersten Teils mit einem ebenso großen Ohrwurmcharakter, wobei gegen Ende sogar mal kurz auf’s Gaspedal getreten wird, was im Großen und Ganzen eher seltener der Fall auf „ORwarriOR“ ist. Das knapp dreiminütige „Olat Hatamid“ mutet durch seine heitere Tanzbarkeit ein wenig wie Subway To Sally auf Orientalisch an und schließt den ersten Teil des Albums („Godfrey’s Cordial – An ORphan’s Life“) ab.

„The Warrior“ leitet den zweiten und als „Lips Acquire Stains – The WarriOR Awakens“ betitelten Teil ein. Im Low-Tempo und eher minimalistisch gehalten gehört das Stück für mich zu den weniger eindrucksvollen Songs der gesamten Platte; wirkt ein wenig in die Länge gestreckt. Ähnlich „Bereft In The Abyss“ folgt mit „His Leaf Shall Not Wither“ ein akustisches Stück der kürzeren Sorte, das vor allem durch die Zupfinstrumente überzeugt. „Disciples Of The Sacred Oath 2“ reißt vor allem durch seinen gelungenen Refrain und die daran anschließende Tempoverschleppung mit, die atmosphärisch durch jede Menge traditionelle orientalische Instrumente aufgeladen wird. Vor allem diese Integration einer Vielzahl – für westliche Ohren exotisch klingender – Instrumente ist Orphaned Land auf „ORwarriOR“ auf solch spielende Art und Weise gelungen wie niemals zuvor. Dafür dürfte mit Sicherheit aber auch der gelungene Mix der Platte durch Steven Wilson (Porcupine Tree) verantwortlich sein.

„New Jerusalem“ wird ein weiteres Mal von Shlomit Levis Stimmarbeit mitgeprägt, die jedem Song, an dem sie Teil hat, unweigerlich ihren Stempel aufdrückt. „M I ?“ leitet träumerisch in den dritten und letzten Teil („Barakah – Enlightening The Cimmerian“) über. „Barakah“ und „Codeword: Uprising“ sind wohl die metallischsten und härtesten Stücke der Platte, können aber mit dem Härtegrad, durch den viele Songs auf „Mabool“ geprägt waren, nicht mithalten. Und das dürfte wohl einer der Hauptkritikpunkte für viele Jünger von Orphaned Land – zumindest aber für mich – sein. Atmosphäre und Originalität in allen Ehren, aber ab und zu hätte es auf „ORwarriOR“ noch ein Stück kompromissloser zugehen können. Im Grunde genommen kann man sagen, dass der Anteil des Death Metals hier in dem Maße zurückgegangen ist, wie der des Rock zugenommen hat, weshalb „ORwarriOR“ auch nur noch am Rande Progressive Death Metal ist. Das „Death“ kann man getrost weglassen. Das ändert natürlich nichts an dem entrückend schönen Schluss von „In The Never Ending Way“, der auf würdige Weise ein rundum gelungenes Album zum Ende bringt.

Fazit: Fans von Orphaned Land kommen um „ORwarriOR“ auf keinen Fall herum. Qualitativ liegen zwischen ihm und „Mabool“ kaum Unterschiede, wobei „Mabool“ bei mir im direkten Vergleich im Moment noch leicht die Nase vorn hat. Für alle, die die Israelis noch nicht kennen und – wie es auf Denglisch so schön heißt – „open minded“ genug sind, ist „ORwarriOR“ ein unbedingter Anspieltipp!

Orphaned Land · The Never Ending Way Of ORwarriOR · 2010

Redaktion

verfasst von ewonwrath
vom 23.05.2010

9 / 10

Playlist

01 - Sapari
02 - From Broken Vessels
03 - Bereft In The Abyss
04 - The Path Part 1 - Treading Through Darkness
05 - The Path Part 2 - The Pilgrimage To Or Shalem
06 - Olat Ha'tamid
07 - The Warrior
08 - His Leaf Shall Not Wither
09 - Disciples Of The Sacred Oath 2
10 - New Jerusalem
11 - Vayehi Or
12 - M I ?
13 - Barakah
14 - Codeword: Uprising
15 - In Thy Never Ending Way (Epilogue)