Gut ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung von „Heliocentric“ schieben The Ocean das angekündigte Schwesteralbum „Anthropocentric“ hinterher. Überraschte „Heliocentric“ viele Die-Hard-Fans der inzwischen merklich geschrumpften Gruppe vor allem durch seichtere Töne, ein mitnichten so vertracktes Songwriting wie auf den Vorgängern und mit dem genialen cleanen Gesang von Loïc Rossetti, so wurde nun wieder eine etwas härtere Gangart angekündigt. Der erste Höreindruck bestätigt das entworfene Bild und macht dennoch klar, dass die Zeiten von „Fluxion“ und „Aeolian“ ad acta gelegt sind...

Wuchtig beginnt „Anthropocentric“ mit dem gleichnamigen Opener, der sich über neun Minuten vor dem inneren Auge des Hörers entfaltet, zuerst etwas quer liegt, dann aber – sich immer tiefer in den Gehörgang fräsend – mitzureißen versteht. Gleich zu Beginn werfen die Mannen um Robin Staps all ihr songwriterisches Vermögen in die Waagschale und klagen über das Leid, das der christliche Glauben über die Menschen gebracht hat. Mit leicht ironischem Lächeln wird das rückständige Volk der Gottesgläubigen besungen, das glaubt: „evolution is a myth“. Aber ist es nicht vielleicht doch so... ?

Nahtlos knüpft hier „The Grand Inquisitor I: Karamazov Baseness“ an: in schleppendem Tempo gehalten, mit wechselnd cleanem und rauem Gesang gestaltet, sich kurzzeitig episch auswachsend und dann wieder abebbend in ruhige, mit tollem Basslauf gezierte Gefilde. Was dem Hörer zugemutet wird, ist nicht ohne. Aber die Progressivität, die The Ocean hier an den Tag legen, fordert nicht nur, sie fördert auch – und zwar die Lust, sich in diese Stücke hineinzuhören, sie sich zu eigen zu machen und zu durchleben. Verkopft ist hier, wie so oft auf den Vorgängeralben geschehen, nichts. Die durchdachten Strukturen der Stücke lassen nie die nötigen Emotionen vermissen, wofür „She Was The Universe“ der beste Beweis sein dürfte. Der meiner Meinung nach stärkste Song des Albums bietet einen genialen Refrain, der so auch auf Mastodons „Crack The Skye“ hätte zu finden sein können. Er weist treibende Beats auf, rockt und zeigt, dass The Ocean auch mit wenigen Tonspuren jederzeit in der Lage dazu sind, die nötige Atmosphäre aufzubauen und jeden komplett mitzureißen.

Nach einer kleinen Verschnaufpause tritt das Kollektiv mit „The Grand Inquisitor II: Roots & Locusts“ ein wenig auf das Gaspedal, pendelt aber nach wie vor zwischen schweren, teilweise treibenden Passagen und hymnischen, rockiger gehaltenen. Gebetsmühlenartig wird das Sendungsbewusstsein des Christentums angeklagt: „You are trying to save me, but perhaps I am not lost.“ Das wird mir auf Dauer fast etwas zu viel und wirkt so, als ob da jemand ein persönliches Trauma abarbeiten will. Sicher Geschmackssache, da man den Naturwissenschaften, die strukturalistisch betrachtet inzwischen die Vorrangstellung unter den größeren „Weltreligionen“ eingenommen haben dürften, mit Fug und Recht das gleiche nachsagen könnte.

„The Grand Inquisitor III: A Tiny Grain Of Faith“ ist düster gehalten, elektronisch untermalt und mutet wie eine Hommage an The Gathering an. Dazu trägt der Gesang, der dem Anneke van Giersbergens verdammt ähnlich kommt, sein übriges bei. Kurz und gelungen.

Damit wären The Ocean mit ihrer stilistischen Bandbreite immer noch nicht am Ende. Darf es auch ein bisschen Post Rock sein? „Wille zum Untergang“ bietet ihn. Die Reminiszenzen an Genre-Größen wie Pelican, Red Sparrows oder Explosions In The Sky sind nicht zu überhören. Ein schönes Stück, das sich gut in das Gesamtkonzept einpasst und ein letztes Durchatmen vor dem großen Finale ermöglicht.

Mit fast schon routinierter religiöser Polemik spielt sich „Heaven TV“ durch seinen Ohrwurmcharakter in die Gehörgänge und zeigt in seiner dynamischen Entfaltung noch einmal alle spielerischen Facetten der Kombo auf. Und natürlich kommen die Streicher – inzwischen Legion bei The Ocean – in „The Almightiness Contradiciton“ auch noch einmal richtig zum Tragen. Ein seichter Schlussakkord, der im Chorus „There's noone here who knows it all / There's nothing there beyond the world we know / There's noone here who knows it all / Is there something there beyond the world we know?“ endet und damit einen endgültigen Schlussstrich unter die Vorherrschaft Gottes setzen möchte. Verstärkt wird dieser Eindruck durch etliche Zitate namhafter „Gotteslästerer“, die sich im Booklet zu Wort melden dürfen: Epicurus, Nietzsche, Dawkins.

Musikalisch kann „Anthropocentric“ ohne größere Probleme an sein Schwesteralbum „Heliocentric“ anknüpfen, auch wenn es in seiner Gesamtheit nicht ganz so abgerundet wirkt. Es sind fünfzig Minuten voller emotionaler Höhen und Tiefen, die textlich für meinen Geschmack oft etwas über das Ziel hinausschießen. Fakt ist: wer „Heliocentric“ sein Eigen nennt, darf auf „Anthropocentric“ nicht verzichten. Wer die alten, oft rohen Zeiten der Band herbeisehnt, ist mit „Anthropocentric“ schlecht bedient und sollte lieber die Finger davon lassen.

The Ocean · Anthropocentric · 2010

Redaktion

verfasst von ewonwrath
vom 06.01.2011

9 / 10

Playlist

01 - Anthropocentric
02 - The Grand Inquisitor I: Kazamarov Baseness
03 - She Was The Universe
04 - For He That Wavereth...
05 - The Grand Inquisitor II: Roots And Locusts
06 - The Grand Inquisitor III: A Tiny Grain Of Faith
07 - Sewers Of The Soul
08 - Wille zum Untergang
09 - Heaven TV
10 - The Almightiness Contradiction